Das "Mañana-Syndrom“

Es ist heiß. Jeder Fetzen Stoff, den man am Leib trägt, ist eindeutig zu viel. Ich stehe in einer von unseren gefühlt hundert Abstellkammern und rümpele mal wieder. Es staubt, es stinkt, es juckt, die Mücken fallen in dem engen Kämmerchen voller Freude über mich her. Dieser Müll bringt mich mental langsam an meine Grenzen. Alles ist uralt, verrostet, verdreckt, versifft. An den meisten Dingen, die ich aus den unendlichen Tiefen hervorziehe, klebt noch das original DM-Preisschildchen, was die Sache zwar kurios, aber nicht besser macht. Draußen höre ich wieder meinen Mann, der sich auch heute in Indiana-Jones-Manier mit Säge und Gartenschere durch den verwilderten Garten kämpft.

Wir sind noch in der Findungsphase. Irgendwo zwischen geregeltem deutschem, und vor allem klimatisierten, Büroalltag und touristischem Urlaubsort.
Momentan arbeiten wir noch recht deutsch - aufstehen, arbeiten, Abendessen. Das macht hier allerdings wenig Sinn. Das mediterrane Klima ist in der Mittagshitze einfach nicht für körperliche Arbeit geschaffen, was der kluge Mallorquiner im Gegensatz zu uns schon seit Jahrhunderten erkannt hat. Man richtet sich auch heute noch in einer Art und Weise nach dem Wetter, die mich immer wieder verblüfft. Mittags hält man Siesta, der traditionelle spanische Mittagsschlaf ist angesagt. Man ist zu Hause, schont seinen Körper.

Nach zwei Tagen Mallorca habe ich das bedingungslos akzeptiert. Wir lernen jeden Tag aufs Neue, unsere Aufgaben rigoros in Wichtig und Unwichtig aufzuteilen, es ist unmöglich, alles an einem Tag zu schaffen. Imposible. Nicht umsonst ist das legendäre „Mañana“ ein geflügeltes Wort. Nicht, weil hier alle zu faul sind zum Arbeiten, ganz im Gegenteil. Es gibt keine soziale Komfortzone, die einen über Wasser hält, wenn man kein Geld mehr hat.
Du arbeitest um zu essen, zu wohnen, zu leben. Du gibst den unwichtigen Dingen keinen Raum, dafür ist die Zeit zu kostbar. Du bist mit Leib und Seele bei der Sache die Du gerade tust, Zeit zu essen, Zeit zu arbeiten, Zeit zu schlafen, Zeit für Familie und Freunde. Und ja, dafür fällt vielleicht manches am Tag hintenüber und wird verschoben...und wenn man ehrlich ist, ist das meistens kein Weltuntergang.

Ein schlauer Mensch hat folgende These aufgestellt, die mir jetzt wieder in den Sinn kommt und die tatsächlich einiges erleichtert: „Überfordere Dich nicht mit deinem Projekt, arbeite jeden Tag nur 1% daran, dann bist du in 100 Tagen fertig. Arbeite sorgfältig und mit Leidenschaft, mit Herz und Freude, dann wird es authentisch.“

Während meine Gedanken mal wieder fliegen, ist mein Abstellraum inzwischen fast leer, nur noch der große Kühlschrank wartet auf Betreuung. „Das mache ich jetzt auch noch schnell“ denkt das deutsche Tinchen und öffnet schwungvoll die Tür. Ein Eldorado der Ekeligkeiten breitet sich vor mir aus. Nach einem kurzen Zwiegespräch mit dem verschimmelten Monstrum und seinem mäßig einladendem Inhalt drehe ich ihm einfach den Rücken zu, stelle fest, das ich heute eindeutig mein Arbeitspensum erreicht habe und springe zur Abkühlung in den Pool.

Kurze Zeit später lassen wir uns alle gemeinsam auf unserer Badeinsel über das Wasser treiben, die schon leicht schräg stehende Sonne taucht uns in wohlig warmes Licht. Auf meinen Abenteuerreisen durch die Tiefen der Abstellkammern habe ich tatsächlich auch etwas Brauchbares gefunden: einen originalverpackten Neoprenanzug (wahrscheinlich aus den 70ern), in den sich unser Sohn inzwischen hineingezwängt hat und jetzt zur allgemeinen Heiterkeit beiträgt. Scharfes Teil. Träge lasse ich meinen Blick schweifen, höre das Lachen der Kinder, das Zirpen der Grillen, das Gurren der Tauben. Um uns herum versinken Haus und Garten langsam im Chaos und erstaunlicherweise stört es mich nicht.

Ich glaube, „Mañana“ wird mein Lieblingstag.

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