"Der erste Tag"
Ich
bin wach, viel zu wach. Der Kühlschrank brummt beruhigend, im
Nebenzimmer erzählen die „Grundschul-Superhelden“ leise von
ihren neuesten Abenteuern und das Haus ist in samtenes Dunkel
getaucht. Eigentlich wie immer. Doch diesmal sind wir endlich hier.
Nach über einem Jahr der Vorbereitung, der Planung, der Zweifel, der
unzähligen Diskussionen, der Tränen, der Vorfreude und der vielen
Reisen hierher, an deren Ende wir jedes Mal wieder in den Flieger
nach Deutschland gestiegen sind, haben wir gestern Nacht mit einem
legendären Tag Verspätung die Insel erreicht.
Heute
Morgen erwachte ich früh, voller Tatendrang. Die Luft war herrlich,
klar und frisch, es roch nach üppig blühendem Oleander,
Bougainvilla und Hibiskusblüten...und nach Meer. Ich öffne alle
Türen und Fenster, lasse die Natur ins Haus und fühle mich wie im
Urlaub. Das ist es ja auch – oder nicht? Also lege ich mich wieder
ins Bett und schlafe bis um zehn Uhr. So viel zum Tatendrang. Doch
der holt uns dann auch brav wieder ein und der Großteil des Tages
verrinnt mit Aufräumen. Mein Mann zerlegt gefühlt einen halben Wald
in unserem Garten zu Kleinholz, während ich mich im Inneren des
Häuschens durch Taschen, Koffer, Kisten und Rucksäcke wühle und in
fast ehrfürchtiger Stimmung alles verstaue. Dort werden die Sachen
die nächsten drei Monate bleiben, das ist momentan eine Zeitspanne,
die mein Hirn noch nicht begreift.
Ja,
es ist eine merkwürdige Mischung heute. Mir fallen die vielen
Geschenke meiner Freundinnen in die Hände, Kalender, Bücher,
Karten, alles mit Liebe ausgesucht und von Herzen geschrieben. Ich
habe Tränen in den Augen und mein Herz ist verwirrt.
Gegen
Abend machen wir uns auf den Weg zu unserer mallorquinischen
Ersatzfamilie und werden mit aufrichtiger Freude begrüßt. Das
kleine Büro ist wie immer voll, ein Kommen und Gehen, Telefon, jeder
quatscht mit jedem, was wollt ihr trinken? Und natürlich alles auf
spanisch. Mein Herz hüpft, einer der Gründe, weshalb ich so gerne
hier bin: alle anderen sind auch da. Ich unterhalte mich mit Margarita und bin gerade ein bisschen stolz, dass ich wirklich
viel verstehe, als sie anfängt über die Schule zu sprechen. Und
schwups, verstehe ich nix mehr...die Vokabeln zum Thema sollte ich
wohl in den nächsten zwei Wochen noch lernen.
Halb elf. Nach dem Abendessen nehmen wir
noch einen „Absacker“-Drink auf unserer Terrasse, stoßen auf
das bevorstehende Jahr an. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite
feiern unsere ebenfalls deutschen Nachbarn schon den ganzen Tag lang
und sind inzwischen offensichtlich auch beim „Absacker“
angekommen. Laut singend und erstaunlich textsicher begleiten sie
jedes Lied, das Alexa über den Amazonkanal in die ansonsten recht
stille Nacht schickt. Eine bunte Mischung aus den letzten dreißig
Jahren, ein Déjà-vu.
Es
fühlt sich wirklich seltsam an: wie oft saßen wir in den letzten
Wochen genau so auf der Terrasse in Deutschland, mit unseren
Freunden, mit Musikwünschen und Mitsingen...wie oft haben dabei wohl
die Nachbarn zugehört? Tja, heute sitzen wir nebenan und lauschen.
Denken an den vergangenen Samstag, als wir unseren gut geplanten Flug
hierher verpasst hatten, und somit mit Sack und Pack wieder umkehren
mussten. Doch dank unserer Freunde hatten wir sofort ein Dach über
dem Kopf, ein warmes Essen im Bauch, Sekt im Kopf und einen
unvergesslichen Abend, einen geschenkten Tag.
Ich
bin hundemüde, die vielen Eindrücke der letzten Tage
fordern ihren Tribut. Meine Füße sind schwer und fühlen sich an
wie die eines Elefanten, ich bin heilfroh, endlich ins Bett zu
kommen. Die ganze aufgestaute Anspannung löst sich, ich sinke in die
Kissen und schließe erschöpft meine Augen.
Mache
die Augen wieder auf und bin wach. Viel zu wach...