„No tengo frio“

Es ist arschkalt, also echt jetzt. Ich drücke mich mittlerweile so lange auf der warmen, völlig durchgelegenen, aber herrlich bequemen azurblauen Couch herum, bis mir die Augen zufallen und ich das „ins Bett gehen“ nicht mehr weiter nach hinten schieben kann. Seit Wochen sind die Nächte frisch und da der Strom teuer ist, heizen wir wie immer nur das Wohnzimmer, ganz wie in Omas Zeiten.

So ist es allabendlich eine echte Überwindung, nicht einfach in Jogginghose und Fleecejacke unter meine vier Bettdecken zu huschen. In Verbindung mit meinen warmen Socken und der heißen Wärmflasche werden das Zähneklappern und die Gänsehaut etwas besser, die Nase bleibt allerdings auch über Nacht ein Eiszapfen. Sehr unangenehm.
Achja, meine unentbehrlichen Ohrstöpsel lege ich natürlich auch noch an – leider nicht beheizbar. Aber wenigstens fallen damit die Gedanken über Nacht nicht aus dem Kopf.

Auch der Mallorquiner an sich ist eine Frostbeule, daher bin ich in guter Gesellschaft und bewege mich tagsüber im warmen Sonnenschein in Winterjacke, Schal und Boots höchst angepasst über die Insel. Unsere Kinder haben an dieser Stelle eindeutig nicht meine Gene geerbt – wie zu meinem Leidwesen übrigens in vielen anderen Dingen auch – sie springen nach wie vor in T-Shirt und kurzer Hose herum oder sitzen stundenlang in ihrem eiskalten Zimmer. Unser Sohn wird in der Schule schon von Weitem begrüßt: „No tienes frio???“ Und insgeheim fragen sich seine Lehrer bestimmt, ob wir denn kein Geld für warme Klamotten haben...der arme Junge.

UUUUauuuuh!!!.....“ Mit offenem Mund steht unser Sohn neben mir auf der Dachterrasse des Häuschens und wirft seinen Kopf in den Nacken, dem gigantischen Schwarm hinterher. „Ich hab Gänsehaut am ganzen Körper!“ „Ich auch“ gebe ich zu, doch diesmal liegt es nicht an der Kälte. Ich bin noch völlig sprachlos von dem Naturschauspiel, welches uns eben ereilt hat.

Ein Vogelschwarm. Hunderte, Tausende von Zugvögeln, in einer einzigen harmonischen Sinfonie vereint, tanzend am Himmel, eine wogende Wolke aus schwarzen Punkten. In perfekter Einheit durchbrechen sie die Atmosphäre, lassen uns staunend und ergriffen zurück. Nur wenige Meter trennen uns, urplötzlich sind wir ein Teil dieser Magie, wir spüren den Luftzug der schlagenden Flügel, hören den Wind rauschen inmitten ihrer Flugbahn. Wir sahen sie kommen am Horizont, unaufhaltsam, konnten nicht glauben, was sich auf uns zubewegte. Binnen Sekunden war uns bewusst, sie werden uns überrollen, doch nein, wir duckten uns nicht. Wir reckten unsere Köpfe mitten in die Welle, ließen uns verzaubern und erlebten einige Sekunden hautnah und unverhofft das atemberaubende Wunder der Natur unserer Erde.

Das ist noch ein Baby??“ fragt mein Sohn mich eine gute halbe Stunde später entgeistert. Ich schlucke kräftig an dem Kloß, der sich in meinem Hals festgesetzt hat und bin wieder einmal froh um meine dunkle Sonnenbrille, durch die meine Tränen nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. Auf dem Rückweg vom Häuschen fahren wir mit unseren Fahrrädern wie immer die Promenade am Meer entlang, es ist Sonntag und so wie am Wochenende üblich, sind auch viele Spanier unterwegs. Doch der heutige Auflauf überrascht mich sehr und ich überlege kurz, ob ich den Saisonbeginn auf der Insel irgendwie verschlafen habe.
Das hier gleicht doch eher dem Opening am Ballermann als einem gemütlichen Spaziergang.

Unser Sohn kombiniert schneller als ich: „Der Wal! Der Wal ist doch am Strand!“ Ja natürlich, jetzt fällt es mir wieder ein. Schon in den frühen Morgenstunden strandete ein junger Finnwal in unserer Bucht, leider war er krank und ist kurz darauf verstorben. Das Spektakel um ihn ist trotzdem beachtlich und auch absolut verständlich...wann hat man schon einmal die Gelegenheit, solch ein imposantes Tier aus der Nähe zu betrachten? Und genau das machen wir dann auch und bahnen uns unseren Weg durch den weichen Sand hin zum abgesperrten Bereich, an welchen der riesige Meeressäuger inzwischen mit Hilfe von Baggern und großem Gerät gehievt wurde.

Ja, dann stehen wir vor ihm und ich sehe ihm in die Augen. In das eine, das auf der Seite, welche nach oben Richtung Himmel gewandt ist, zu sehen ist. Es ist noch geöffnet, von Falten umgeben und unendlich sanft im Blick. „Wie schade“ schießt es mir durch den Kopf. „So ein wunderschönes Tier“ und ich kann nicht verhindern, dass mir eine kleine Träne die Wange herunterrollt. Ich sehe mich verstohlen um und entdecke eine Frau, die sich ebenfalls über die Augen wischt.
Auch die Magie, die dieser sanfte Riese auch im Tod noch ausstrahlt, lässt die Menschen nicht unbeeindruckt.

Nichtsdestotrotz muss der kleine Wal nun fortgeschafft werden, was unsere Mallorquiner vor einige Herausforderungen stellt. Die Bagger sind nicht stark genug, die befestigten Gurte reißen angesichts des Gewichtes von ca. sechs Tonnen, die drei herbeigefahrenen Lastwagen sind für die Gesamtlänge des Tieres von fast 15 Metern viel zu klein. Vor meinem geistigen Auge tauchen die immer emsigen Bauarbeiter aus der Fernsehserie „Die Fraggles“ auf, auch sie waren immer viel zu klein für all ihre gigantischen Bauwerke.
Schon seltsam, was das Hirn manchmal für Verbindungen herstellt...

Am Abend lese ich auf meiner blauen Couch die geplanten Maßnahmen für den folgenden Tag: Der Finnwal muss an Ort und Stelle zerlegt werden, das passiert unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es werden große Zelte errichtet und viele Mitarbeiter des Palma Aquariums sind vor Ort, um das Tier medizinisch zu untersuchen. 
 
Ja, der Tag war in der Tat bemerkenswert, reich an Naturschauspielen, dem Leben und dem Tod.
Und beides lässt mich wieder einmal mit mahnenden Gedanken zurück - hab viel mehr Respekt vor Gottes Schöpfung und gehe mit offenen Augen durch die Welt, um ihre Schönheit zu sehen.
Immer wieder.

Ich spüre den Nachtschatten um die Ecke schleichen und während ich schon in leichten Schlummer hinübergleite, schicke ich spontan meine Wärmflasche mitsamt Socken, Bettdecken und Ohrstöpseln zum Teufel.
Heute schlafe ich einfach auf dem Sofa.
Unter der lauschigen Infrarotheizung und herrlich bequem.

Buenas noches a todos. 🌜🌚🌛


https://www.youtube.com/watch?v=S4NAl460xYc


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