"Zerrissen"
Es
ist dunkel, der Sturm peitscht durch das alte Gemäuer. Die Fackeln
flackern wild in zornigen Windböen, tief werden die dunklen schweren
Wolken über das nicht vorhandene Dach der Kirche vorangetrieben.
Es
regnet nicht – noch nicht, doch der fahle Vollmond zieht bereits
Wasser, nur durch hellgrauen Dunst ist er schemenhaft am Himmel zu
erkennen.
Die
Soldaten formieren sich rasch, es gibt kein Entrinnen mehr. Mit ihren
goldenen Rüstungen und den scharfen Lanzen erbauen sie ein trutziges
Bollwerk, dem sich niemand entgegen stellen mag. Die brachiale Musik
von Beethovens Sinfonie dröhnt über mich hinweg und verleiht der
Szenerie Endzeitstimmung. Ich stehe inmitten der Menschenmenge,
unfähig, mich zu bewegen, Zuschauerin. So wie die Menschen damals
haben auch wir uns heute versammelt. Und sehen nur zu, tatenlos. Die
Gänsehaut reicht von meinen Fußzehen bis hinauf zu meinen
Haarspitzen, ich bin hypnotisiert. So stehe ich bereits seit vielen
Minuten, meine Augen lassen ihn nicht los. Er hängt dort vorne, zur
Schau gestellt. Am Ende ergab er sich seinem Schicksal. Karfreitag.
Im
Halbschatten der großen Büsche im Hintergrund entdecke ich bereits
die Konturen seiner Begleiter, bekleidet mit langen spitzen Hüten
und bodenlangen Gewändern in dunklen Farben. Die Gesichter sind
vermummt, nur schmale Schlitze lassen den notwendigen Raum zum Sehen
frei - die Prozession sammelt sich.
Zwei
lange Leitern werden am Kreuz aufgestellt. Die kräftigen
Hammerschläge hallen laut durch die Nacht, vorsichtig werden die
langen Nägel aus Händen und Beinen gelöst. Mit Hilfe eines weißen
Leintuchs nehmen sie seinen Körper in Empfang und betten ihn
schweigend in den gläsernen Sarg.
Die
Erde zittert, die Luft vibriert. Die Glockenschläge des
Rathausturmes verkünden die Mitternachtsstunde, gespenstisch. Von
Ferne sind dumpfe Trommelschläge zu hören, begleitet von den
dunklen Tönen der Trompeten. Die Menschenmenge teilt sich für die
heranrollenden, mit weißen Blumen und Palmblättern geschmückten
Wagen. Die trauernde Mutter Maria, das leere Kreuz, das flammende
Herz Jesu. Der gläserne Sarg mit seinem Leichnam wird aus der Kirche
getragen, bildet den Schluss der langen Kette. Die Altstadt ist voll,
alle sind gekommen, ihm das letzte Geleit zu geben.
Ich
laufe mit, neben dem Sarg. Schweigend und ehrfürchtig, im schweren Takt der
Trommeln. Die Stimmung ist besonders, ich brauche einen Augenblick,
bis mir der Unterschied klar wird.
Dies
ist keine Prozession – dies ist tatsächlich ein Trauermarsch.
Ostersonntag.
Der Osterstrauß ist geschmückt, kleine Geschenke liegen darunter,
die Kinder waren bereits Eiersuchen. Die Szenerie, von außen betrachtet, wie gewohnt.
Doch
der Sturm peitscht noch immer über uns hinweg und hat mein Innerstes
vollumfänglich erfasst. Eine Entscheidung ist gefallen, ich begrabe
meinen Traum. Es war nicht aufzuhalten, ohne Rücksicht auf die
Feiertage, manches passiert ungeplant. Wir gehen zurück.
Es
widerstrebt allem, was ich möchte, was ich mir vorstelle, mir
wünsche, wovon ich träume. Ich handele mit jeder Faser meines
Körpers und Geistes gegen meine Überzeugung – ich folge an dieser
Stelle einzig und alleine der Vernunft.
Ja,
ich bin vernünftig. Wie ich dieses Wort hasse. Wie eine
überdimensionale Fliegenklatsche begräbt es mein Herz unter sich
und macht sämtliche guten Gefühle zunichte. Freude, Glück,
Euphorie, Fröhlichkeit...nichts davon bleibt. Ich trauere.
Und
nein, es hilft mir nicht, dass wir „öfter her kommen“.
Ich
möchte an dieser Stelle bitte auf gut gemeinte Ratschläge und Floskeln verzichten.
Meine Situation ist folgende: Es kommt jemand zu Dir und sagt: „Verlasse auf der Stelle Dein Zuhause, lass alles stehen und liegen, was du Dir bis hierher erarbeitet hast. Du hattest eine gute Zeit, das reicht jetzt. Du lebst ab jetzt woanders – aber kein Problem, Du darfst Dein Zuhause ab und zu mal besuchen.“
Meine Situation ist folgende: Es kommt jemand zu Dir und sagt: „Verlasse auf der Stelle Dein Zuhause, lass alles stehen und liegen, was du Dir bis hierher erarbeitet hast. Du hattest eine gute Zeit, das reicht jetzt. Du lebst ab jetzt woanders – aber kein Problem, Du darfst Dein Zuhause ab und zu mal besuchen.“
Ich
werde aus dem Nest gekickt, wieder einmal. Ich schüttele mich und
versuche, mich zu sortieren und bin wirklich nicht sicher, wie lange
das gut geht. Doch die Alternativen sind indiskutabel, ich habe keine
Wahl.
Nein, das stimmt nicht ganz, eine Wahl hat man immer – ich bin nicht mutig genug, den anderen Weg zu wählen. Ich sehe nur tatenlos zu und laufe in der Prozession mit, die mein Leben ist.
Nein, das stimmt nicht ganz, eine Wahl hat man immer – ich bin nicht mutig genug, den anderen Weg zu wählen. Ich sehe nur tatenlos zu und laufe in der Prozession mit, die mein Leben ist.
So
bemühe ich am Ende doch noch eine Floskel:
„Die
Zeit heilt alle Wunden.“
Ja.
Aber
die Narben bleiben.
💔