"Zeit meines Lebens"

Ich stehe im Halbdunkel, still. Höre auf die Geräusche, die von außen hereindringen. Sehe mich um, mein Blick bleibt hängen...an der Decke, die so viele Stunden brauchte, um endlich glatt zu werden. Am Fliesenboden, der immer noch nicht ganz von Zement befreit ist. Durch das geöffnete Fenster dringen die Rufe der Schafe herein, übertönt von herannahenden Motorrollern.

Langsam erhebe ich mein Glas, feierlich. Ein kleines Gläschen nur, gefüllt mit dem mallorquinischen Kräuterlikör, der inzwischen zum Inventar gehört. Ich halte Zwiesprache mit unserer riesigen Küchenuhr, vor der ich Angesicht zu Angesicht stehe und leise Abschied nehme. Szenen dieses Jahres spielen sich vor meinem inneren Auge ab. Unsere Kinder an ihrem ersten Schultag und ihre Frustration über die fremde Umgebung nach der ersten Woche. Am vergangenen Freitag, dem letzten Schultag, gab es Tränen des Abschieds. Sie wären gerne länger geblieben.

Ich sehe den Urwald, der rund um unser Haus wucherte und den wir mühselig und mit einigen Schrammen versehen nach vielen Wochen endlich kultiviert hatten. Ich höre den Regen rauschen an jenem Abend des furchtbaren Unwetters, der so viele Todesopfer forderte. Ich fühle das kühle Wasser unseres Pools, an welchem wir so viele fröhliche und unbeschwerte Abende genossen haben. Ich rieche den zentimeterdicken Baustaub, der sich auch nach so vielen Monaten immer noch in einigen dunklen Ecken versteckt hat.

Ich höre der Wind des Vogelschwarmes über uns und den Wind der vom Meer heraufweht...mal lau und sanft, mal wütend und wild.
Ich sehe, ich fühle, ich atme.
Ja, es war ein besonderes Jahr. Ich habe viel gelacht und viel geweint. Ich habe intensiv gelebt, habe aufgetankt – wie lange das wohl anhält? Ich hatte viele Begegnungen, manche mit mir selbst.

Wir haben viel bewegt in diesem Jahr. Wir haben viel voneinander gehabt, von unseren Freunden und unseren Familien. Wir haben gestritten und gelacht, unsere Kinder sind groß geworden, ihren Kinderschuhen entwachsen. Schön, dass wir sie begleiten konnten. Ja, wir sind alle groß geworden, reich an Erfahrung.
Was davon nehmen wir mit? Was können wir hinüber retten in unseren neuen alten Alltag in Deutschland?

Ich stehe im Halbdunkel und erhebe mein Glas. Proste der großen Küchenuhr zu, vor der ich Angesicht zu Angesicht stehe. Ich trinke auf die Zeit meines Lebens, feierlich.
Auf die, die ich hatte und auf die, die noch kommen mag.

Ich schließe meinen Blog.
Schön, dass ihr mich begleitet habt. Passt auf euch auf.
Fühlt euch gedrückt, von Herzen. 💝
Liebe Grüße, Tina

https://www.youtube.com/watch?v=kUEk4MMSMzE&list=RDkUEk4MMSMzE&start_radio=1&t=14

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